In 8 Stufen zum Diktator – Viktor Orbans neuer Ratgeber

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Ein Mann regiert mit Notstandsgesetzen. Minderheitenrechte und Medienfreiheit werden eingeschränkt. Das Land zählt bereits zu den ärmsten des Kontinents. Die finanziellen Belastungen der Bürger steigen massiv. Und ein Winter steht bevor, in dem sich ein Großteil der Bevölkerung weder Gas noch Strom leisten kann. Die Währung wertet zunehmend ab und die Preise steigen.

Kommt Ihnen das bekannt vor? Obwohl gewisse Aspekte Erinnerungen an die historische Vergangenheit wach werden lassen, handelt es sich um ein hochaktuelles Problem. Eines, das nicht erst vor der Haustür steht, sondern längst im Haus angekommen ist. Ein EU-Land. Ungarn.

Blaupause zur Diktatur

Viktor Orban könnte einen Ratgeber dazu verfassen, wie man zum Diktator wird – und das sogar unter den Augen der demokratischen Geldgeber in Brüssel, die, man muss es so sagen, das System Orban finanziert und damit erst möglich gemacht haben.

Orbans Ratgeber für angehende Diktatoren

  1. Zunächst einmal sucht man sich einen Feind. Im Falle von Orban war und ist das wahlweise die EU, George Soros, die LGBTQ-Community, Flüchtlinge oder böse Kapitalisten, welche Mehrheiten an Konzernen halten, die später von ihm und seiner Entourage übernommen werden usw.

  2. Dann impft man das unmündige Volk auf die Linie ein, indem man überall im Staatsfernsehen und auf Plakaten der Hauptstadt den Feind beschimpft. Besonders gern die EU.

  3. Zu diesem Zweck entledigt man sich drittens unliebsamer Journalisten auf die eine oder andere Weise. Zum Beispiel indem man Sendelizenzen, wie jüngst beim Budapester Klubradio, dem wohl letzten unabhängigen Radiosender des Landes, nicht verlängert. Oder gleich ein Homosexuellen-Gesetz erlässt, dass offenbar den Zweck verfolgt, die Existenz von anderen sexuellen Orientierungen als der Heterosexuellen Variante zu leugnen.

  4. Da man sich anfänglich noch in demokratischen Wahlen der Machterhaltung versichern muss, verspricht man den Bürgern viertens, vor den Wahlen das Blaue vom Himmel. (Nur um es ihnen nach ein paar Monaten, angesichts völliger Unbezahlbarkeit, wieder wegzunehmen. Zum Beispiel die satten Steuererlässe bei drei und mehr Kindern, oder Zuschüsse für Eigenheime bei 3 Kindern plus – weg damit. Oder eine Rückzahlung der Einkommensteuern, die durch steigende Mehrwertsteuern inzwischen ihren Sinn verloren hat. Von den nun wieder komplett kassierten Steuererleichterungen für Klein- und Jungunternehmern ganz zu schweigen. Überdies hielt Orban es offenbar für vernünftig die Preise für Gas, Strom, Lebensmittel und Benzin zu deckeln – und wundert sich hinterher über die steigende Inflation. Oder man vertreibt ausländische Konzerne mit Sondersteuern aus dem Land und löst private Pensionsfonds auf – und wundert sich hinterher, über die mangelnden Investitionen im Land und scharenweise obdachlose Rentner. Aber vielleicht wundert sich Orban ja auch gar nicht.)

  5. Schließlich macht man sich eine globale Pandemie zunutze für den finalen Streich und erlässt fünftens Notstandsgesetze, die einem praktisch völlige Alleinherrschaft ohne Kontrolle garantieren. Hinterher rudert man in der Hoffnung auf ein paar EU-Gelder ein bisschen zurück und glaubt offenbar tatsächlich niemand käme dahinter, dass auch die Aufhebung der Notstandsgesetze dem großen Lenker Orban sehr viel unkontrollierte Flexibilität für weitere Verordnungen lassen.) Dann macht man sich noch den Krieg im Nachbarland zunutze, um den Ausnahmezustand zu erklären. (Auf dass den großen Orban nur ja niemand in Ausübung seiner Verordnungen störe).

  6. Sechstens nutzt man die Allmacht um sich unliebsame Gegner vom Hals zu schaffen. Wie die Welt schon 2020 schreibt (welt.de/politik/ausland/article209692827/Ungarn-Parlament-hebt-Notstandsgesetz-auf-aber-erlaesst-andere-Vollmachten.html) hat Orban „…im Laufe von mehr als 100 Verordnungen … nach Ansicht von Kritikern den Datenschutz, die Informationspflichten der Ämter und das Arbeitsrecht ausgehebelt. Den Kommunen, die er bei den Lokalwahlen im Vorjahr an die Opposition verloren hatte, entzog er viel Geld und etliche politische Gestaltungsmöglichkeiten.“.

  7. Und siebtens muss man von dem ganzen anstrengenden Dasein als Diktator, ja auch irgendwie profitieren. Zum Beispiel mit Staatsaufträgen für des Vaters Kieswerk, wie der Schweizer Sender SRF (srf.ch/news/international/korruptionsvorwuerfe-in-ungarn-das-geschaeftsmodell-der-familie-orban) im Februar dieses Jahres berichtet. Besonders hohe Preise für den ungarischen Staat sind da das Mindeste. Und deshalb kann sich Papa Orban dann auch einen 30 Millionen Schweizer Franken teuren Umbau seines Anwesens leisten. Schließlich will man ja als Durchschnitts-Ungar auch seinen eigenen künstlichen See, mit Clubhaus und Kapelle haben.

  8. Und falls, achtens, das einfältige Volk doch irgendwann den Aufstand plant, verdoppelt man eben schnell die Gehälter für Polizei und Militär. So erhalten Polizei-Anfänger ab September und Unteroffiziersanfänger ab Januar ein monatliches Gehalt von jeweils über einer halben Million Forint. Das entspricht etwa 1.230 Euro und ist mehr als doppelt so viel wie zum Beispiel Lehrer (trotz 10% Gehaltserhöhung) verdienen (nicht die Schulleiter wohlgemerkt). Man muss in einer Diktatur nämlich immer wissen, wen man wirklich braucht.

Ungarn verlassen das Land

Nun, Orbans Ungarn braucht augenscheinlich keine Ärzte, Lehrer und Meteorologen. Deshalb haben seit Orbans Machtantritt, laut OECD-Schätzung, rund 1 Million Menschen das Land verlassen. Dabei sind Rückkehrer und Kurzzeitgastarbeiter miteingeschlossen, wobei rund 600.000 Menschen ihrem Land seit Orbáns Machtantritt 2010 dauerhaft den Rücken gekehrt haben.

Das entspricht etwa 7% der Gesamtbevölkerung. Gemäß den Angaben der OECD folgen ihnen weiterhin jährlich zwischen 50.000 bis 85.000 vor allem junge und gut ausgebildete Menschen. Kein Wunder, wenn in Orbans Ungarn kein Platz für die gut Ausgebildeten bleibt. So wurden, laut einer mir bekannten Quelle, beispielsweise die Zugangsvoraussetzungen für die hoch bezahlten Polizeijobs zwar von einstigem Abitur-Niveau auf Wir- nehmen-wen-wir-wollen herabgesetzt.

Aber es scheint wohl nicht so einfach zu sein, ausgerechnet zu denen zu gehören, die-man-will. Nicht jeder ist schließlich für die Korruption oder die Verteidigung eines Diktators geboren.

EU-Geld gestoppt – Ist jetzt die Luft raus?

Und nach vielen Jahren Orban war es dann im April dieses Jahres 2022 dann endlich so weit: Die EU-Kommission hat zum ersten Mal den so genannten Rechtsstaatsmechanismus gegen Ungarn verhängt. Begründung: Orbans Ungarn verstößt mehrfach gegen die Rechtsstaatlichkeit.

Nicht nur wegen zweifelhafter Gesetze und Notverordnungen Orbans, sondern auch aufgrund der Korruption, der Interessenkonflikte und der öffentlichen Auftragsvergaben. Überdies werden ganz in ganz großem Umfang EU-Fördermittel missbraucht, um sie in andere Taschen wandern zu lassen. Zum Beispiel in die des Orbanschen Schwiegersohnes, der 65 Millionen EU-ro für Straßenlampen bekam.

Im Fazit eines Rechtsgutachtens, das eine Gruppe von EU-Parlamentariern in Straßburg vorlegte heißt es sogar: „Kein einziger Euro aus der EU-Kasse ist im System Orban vor Missbrauch sicher. Das betrifft alle von der EU finanzierten Programme.“ Hat ja lange genug gedauert, bis die EU das alles einsehen wollte.

Und jetzt hält die EU erst einmal die Milliarden für Ungarn zurück. Mit der schon beschriebenen Folge, dass Orban seine blauen Wahlversprechen nicht einmal mehr ansatzweise erfüllen kann. Familien werden Kürzungen hinnehmen müssen und kleine und mittelständische Unternehmen größtenteils eine höhere Steuerlast.

Das war immerhin schon Grund genug, um im Juli in Budapest die Menschen zu Demonstrationen auf die Straße zu locken. Doch reicht das schon, damit sich etwas ändert?

Bittere Armut und steigende Preise – humanitäre Krise nicht auszuschließen

Ungarn gehört zu den ärmsten Ländern Europas und ist neben Griechenland das ärmste Land der EU. Das müsste nicht so sein, wenn EU-Gelder nicht vom Orban-Regime veruntreut und stattdessen ehrlich investiert worden wären.

In Ungarn liegt der gesetzliche Mindestlohn bei 200.000 Forint (etwa 494 Euro) brutto. Netto bleiben davon etwa 130.000 Forint (ca. 320 Euro) übrig. Davon müssen die fast 12% offizielle Inflationsrate (eine mir bekannte Quelle berichtet von Preissteigerungen bei Grundnahrungsmitteln wie Brot und Mehl von teilweise bis zu 700%) und die steigenden Kosten für Strom und Gas bezahlt werden.

Laut Schätzungen der oppositionellen sozialistischen Partei Ungarns leben 40% der Menschen in Ungarn unterhalb der Armutsgrenze. Etwa eine Viertel Million Kinder sind mangelernährt. Orbán führte ein Essensprogramm für Schüler und Kindergartenkinder ein, das diese aber nur dann kostenlos in Anspruch nehmen können, wenn die Eltern gleichzeitig auf Sozialhilfe verzichten.

Damit erklärte er zynischerweise “die Kinderarmut in Ungarn für beendet.” Besonders stark betroffen sind übrigens alleinerziehende Mütter die zu über 62% armutsgefährdet sind und die Roma-Minderheit, die zu über 80% ! bereits unter der Armutsgrenze lebt.

In Budapest sind sie mittlerweile ein gewohnter Anblick: In kaum einer anderen osteuropäischen Hauptstadt gibt es so viele Obdachlose und vor allem so viele alte Menschen ohne festen Wohnsitz. Orbáns Antwort darauf: Die Obdachlosigkeit einfach zu verbieten. Wer sich nach Aufforderung durch die Polizei nicht in ein Wohnheim begibt, der wird schlichtweg verhaftet. Nur leider reichen die 11.000 Plätze in den Obdachlosenunterkünften nicht einmal annähernd für die rund 30.000 Obdachlosen.

Wird die Energiekrise Orban endlich das Handwerk legen?

Orban glaubt er sei ein Freund Putins, doch Putin hat keine Freunde mehr. Was sonst könnte der Grund dafür sein, dass Orbans Gasrechnung nicht ganz aufzugehen scheint. Immerhin bezahlte Ungarn für russisches Gas etwa sechs Mal mehr, als Putin zuvor in Aussicht gestellt hatte.

Es bleibt auch in Ungarn bittere Realität: Die Strom- und Gaspreise steigen deutlich.

Vor allem deshalb, weil sie zuvor durch das Orban-Regime künstlich niedrig gehalten wurden, um das Volk bei Laune zu halten.

Während die Strompreise eher marginal steigen von 32 auf 36 Forint pro kWh, aber gedeckelt sind auf einen Jahresverbrauch von 2523 kWh pro Haushalt und darüber hinaus eine Preissteigerung von 100% fällig wird, hat der Anstieg der Gaspreise auch in Ungarn mächtig rein. Hier verzehnfacht sich der Gaspreis auf 102 Forint pro Kubikmeter bis 1729 Kubikmeter pro Jahr. Danach droht eine weitere Versiebenfachung des Gaspreises.

Rechnen Sie nach: Ein durchschnittlicher 4-Personen-Haushalt verbraucht 4000 kWh an Strom pro Jahr und geschätzt 2000 Kubikmeter an Gas für Warmwasser und Heizung im 120qm Einfamilienhaus.

Das ergibt für eine durchschnittliche Familie in Ungarn eine Belastung von 194.366 Forint für Strom pro Jahr, also 16.197 Forint im Monat für Strom. Und 378.795 Forint für Gas pro Jahr, also 31.566 Forint pro Monat. Und das ist eine konservative Rechnung.

Damit liegt die monatliche Belastung für einen ungarischen Haushalt für Gas und Strom bei 47.763 Forint pro Monat. Das sind umgerechnet 118,21 Euro oder 37% des Netto-Einkommens einer Geringverdiener-Familie, wie zum Beispiel einer Lehrer-Familie.

Während steigende Gaspreise im kommenden Winter in vielen Teilen Europas zu einer Belastungsprobe werden, dürften sie in Ungarn zur Existenzfrage werden. Essen oder frieren – nirgendwo in Europa werden sich die Menschen die Frage häufiger stellen als in Ungarn.

Die Frage ist, wieviel Armut verträgt Ungarn noch, bis es erkennt, dass es Orban nicht mehr verträgt.

Angesichts eines Interbankenzinssatzes von 12,81%, womit Ungarn auf einer Stufe knapp hinter Nigeria und Sierra Leone und im weltweiten Ranking auf dem siebtletzten Platz steht, gehe ich davon aus, dass eine massive Finanz- und Schuldenkrise bereits besteht.

Entwicklung des Interbankenzinssatzes in Ungarn

Quelle: tradingeconomics.com

Zum Vergleich: Der Interbankenzinssatz in Deutschland liegt bei 0,4%.

Mein Fazit:

Meiden Sie Anlagen in Forint und ungarischen Aktien. Dieser Sturm ist noch nicht überstanden. Und setzen Sie auf Gold und andere Absicherungselemente, denn Ungarn ist ein EU-Mitgliedsstaat. Zwar erfordert Ungarn als Nicht-Euro-Land keine direkte Rettung, aber die sich anbahnende wirtschaftliche und humanitäre Krise innerhalb der EU in derart unruhigen Zeiten wie aktuell, könnte sich auch zu einem größeren Drama entwickeln. Sollte dagegen die EU-Kommission erneut einknicken und Orban mit EU-Milliarden weiter künstlich am Leben erhalten, verschiebt sich die Problematik nur nach hinten.