EZB-Urteil aus Karlsruhe: Deutschland droht Vertragsverletzungsverfahren

Inhaltsverzeichnis

Ursula von der Leyen hat die Seiten gewechselt. Seit sie nicht mehr der Bundesregierung angehört, sondern als EU-Kommissionsvorsitzende in Brüssel aktiv ist, geht sie auch mit den Bedürfnissen der Bundesrepublik nicht mehr so zimperlich um wie zuvor.

Besonders deutlich zu erkennen ist das dieser Tage im Hinblick auf das vielbeachtete Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den EZB-Anleihekäufen. Diese seien teilweise verfassungswidrig, zumindest fehle es an einer schlüssigen Begründung zur Darlegung der Verhältnismäßigkeit dieses Instruments, so der Urteilsspruch aus Karlsruhe.

Nun wäre das Problem formal schnell zu lösen. Die Zentralbanker könnten ohne Weiteres entsprechende Papiere vorlegen, drei Monate haben sie dazu Zeit, und die Sache ist erledigt. Doch juristisch ist die Angelegenheit wesentlich heikler.

Kompetenzgerangel der höchsten Gerichte

Zum ersten Mal hat das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil einem vorherigen Spruch des Europäischen Gerichtshofs widersprochen. Dieser hatte die Anleihekäufe Ende 2018 als rechtmäßig eingestuft.

Wer aber hat in europäischen Angelegenheiten das letzte Wort? Der EuGH oder ein nationales Gericht? Diese Frage liegt seit letzter Woche offen auf dem Tisch und wird heftig diskutiert. Von Seiten der EU ist die Sache klar. Der EuGH ist zuständig, das Bundesverfassungsgericht hatte ihn damals angerufen und den Fall dorthin überwiesen, daher darf es nachträglich nicht anders entscheiden. Da die Verfassungsrichter genau das nun aber doch getan haben, erwägt von der Leyen die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen die Bundesrepublik Deutschland.

Urteil könnte EU-Instanzen erschüttern

Es wäre innerhalb Europas ein wichtiges Signal. Gerade bei kleineren Mitgliedsstaaten mit geringerer Einwohnerzahl oder schwächerem Bruttoinlandsprodukt entsteht häufig der Eindruck, ihre Interessen würden übergangen oder sie würden härter bestraft als große mächtige Mitgliedsstaaten wie etwa Deutschland oder Frankreich.

Der Eindruck ist nicht unbegründet, immerhin hat Deutschland selbst Anfang des Jahrtausends jene Schuldengrenzen überschritten, die man sich kurz zuvor noch selbst auferlegt hatte – ohne dass dies größere Konsequenzen gehabt hätte. Ein paar Jahre später, als Griechenland und andere EU-Mitglieder wegen der globalen Finanzkrise in der Bredouille steckten, sah das bekanntlich ganz anders aus.

Wasser auf die Mühlen der Nationalisten

So muss man nun aufpassen, dass das Kompetenzgerangel zweier selbstbewusster Gerichte nicht zusätzliches Wasser auf die Mühlen derjenigen befördert, die im Staatenverbund ohnehin ein Zwei- oder Drei-Klassen-Bündnis vermuten, bei dem im Zweifelsfall das Recht des Stärkeren gilt.

Zudem befeuert das Urteil aus Karlsruhe die Bestrebungen einiger Nationalisten, Kompetenzen wieder mehr auf nationalstaatlicher Ebene anzusiedeln und damit die Befugnisse der EU zu beschneiden. Auch diese Tendenz kann kaum gewollt sein, auch nicht in Karlsruhe.

Dass man immerhin das Anleihekaufprogramm als solches nicht für grundsätzlich unzulässig erklärte, ist daher positiv zu werten. Schwerwiegende Konsequenzen für die innereuropäischen Kompetenzgefüge dürfte das Urteil dennoch haben.