Brexit: Abkommen am Parlament vorbei?

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Die nächste Frist ist verstrichen. Bis Sonntagabend, Mitternacht, sollte ein Brexit-Abkommen vorliegen, so hatte es ein Großteil des Europäischen Parlaments verlangt. Andernfalls, so die Parlamentarier, bestehe keine Möglichkeit mehr, das Vertragswerk bis zum Jahresende hinreichend zu prüfen und formell zu ratifizieren.

Dass nun auch dieses Ultimatum überschritten wurde und dennoch weiterverhandelt wird, damit konnten Beobachter der Brexit-Gespräche bereits vorab rechnen – es ist der übliche Modus Operandi. Seit Jahren werden immer wieder neue Deadlines gesetzt, um Zeitdruck zu erzeugen, doch am Ende dürfte diesbezüglich die britische Seite Recht behalten, die stets betont, die einzige, wirklich bindende Frist sei der 31. Dezember, 23:59 Uhr.

Deal or No-Deal – was will Boris Johnson?

Zum 1. Januar endet bekanntlich die Übergangsfrist. Ist bis dahin kein Abkommen existent, wird ein harter Brexit vollzogen, mit Zöllen und Quoten, Grenzkontrollen und Abriegelung des EU-Binnenmarkts – ein Szenario, das eigentlich keine Seite wollen kann, das den Briten aber deutlich mehr wehtun dürfte als den Kontinentaleuropäern.

Doch Boris Johnson spielt mit dem Feuer. Großbritanniens Premierminister lässt sich nicht in die Karten blicken in der Frage, ob er nun eigentlich einen Austrittsvertrag oder einen No-Deal-Brexit anstrebt. Vielleicht weiß er das auch selbst noch nicht genau. Kurzfristig und innenpolitisch würde ihm persönlich der harte Cut mehr nutzen als schaden, langfristig und außenpolitisch betrachtet hingegen dürfte der No Deal auch und gerade aus britischer Sicht die schlechtere Option darstellen.

Flug-, Fähr- und Zugverkehr eingestellt

Einen kleinen Vorgeschmack darauf, was ab dem 1. Januar droht, bekommen die Briten schon jetzt zu spüren. Auf der Insel grassiert eine hochansteckende neue Mutation des Corona-Virus. Etliche EU-Staaten reagierten praktisch über Nacht, stellten den Flugverkehr ein, verweigerten Ausländern aus entsprechenden Gebieten die Einreise, machten die Grenzen dicht. Der Fährverkehr und der Eurotunnel sind ebenfalls vorläufig gesperrt.

Für Großbritannien bedeutet das: Die Lebensmittelversorgung mit Gütern vom Kontinent könnte in den kommenden Wochen knapp werden, es drohen leere Regale. Kommt es zum harten Brexit, dürfte dieser Zustand noch eine Weile andauern, bis sich neue Handelsroutinen eingespielt haben.

EU-Parlament – ein zahnloser Tiger?

Das EU-Parlament sieht unterdessen keine Chance mehr, ein etwaiges Abkommen in der vorgesehenen Frist zu ratifizieren. Es pocht auf einer eingehenden Prüfung und weigert sich, einen Vertrag ohne eine solche Prüfung einfach durchzuwinken.

Genau das könnte aber am Ende passieren. Sollten sich die Unterhändler doch noch auf eine Einigung verständigen, könnten die nationalen Regierungschefs dieses Abkommen vorläufig in Kraft setzen. Es würde dann faktisch ab Januar gelten – dem EU-Parlament bliebe nichts anderes übrig, als es nachträglich abzunicken.

Die einzige direkt gewählte europäische Institution derart zu degradieren, würde der EU wohl einen nachhaltigen Knacks verpassen – und wäre somit ganz im Sinne Boris Johnsons.