Inflationsgespenst: Alles halb so schlimm?

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Sieht Christine Lagarde etwas, das allen anderen verborgen bleibt – oder will die Chefin der Europäischen Zentralbank (EZB) lediglich an dem festhalten, was sie bislang zu sehen glaubte?

Inflation erreicht historisches Ausmaß

Seit Monaten steigt die Inflation in ungeahnte Höhen, in Deutschland lag sie zuletzt so hoch wie seit 1993 nicht mehr und könnte bis zum Jahresende auf über 5 Prozent steigen. Doch die europäischen Währungshüter bleiben gelassen: Dabei handele es sich lediglich um vorübergehende Effekte, bedingt etwa durch Basiseffekte nach der vorübergehenden Absenkung der Mehrwertsteuer in Deutschland im vergangenen Jahr oder gestörte Lieferketten, die sich schon bald erholen würden. Mittelfristig sehe man das Inflationsziel von 2 Prozent nicht gefährdet, schon 2022 solle sich die Lage allmählich normalisieren, die Teuerungsrate sinken und mithin sei ein geldpolitisches Eingreifen seitens der Notenbanker nicht erforderlich, so die Lesart.

Doch die jüngsten Schlagzeilen rund um Konjunktur- und Preisentwicklung lassen das sprichwörtliche Inflationsgespenst, das so oft die Börsianer verschreckt, noch beunruhigender wirken. Seit Monaten explodieren die Energiepreise. Öl und Gas zählen zu den hauptsächlichen Preistreibern für Industrie und Verbraucher in diesem Jahr.

Sprit und Heizöl als wesentliche Preistreiber

In Deutschland lag die Inflationsrate im September bei 4,1 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat. Zwar verteuerten sich auch Lebensmittel mit 4,9 Prozent überdurchschnittlich stark, doch die größten Sprünge gab es im Bereich der Energie: Hier wurden 14,3 Prozent mehr fällig als zwölf Monate zuvor. Die Ausgaben für Heizöl stiegen um satte 76,5 Prozent, Benzin verteuerte sich um gut 28 Prozent, wie das Statistische Bundesamt mitteilte.

Die Gründe für den Preisanstieg sind vielfältig. Neben der wieder auf 19 Prozent angehobenen Mehrwertsteuer schlägt in Deutschland der seit Anfang des Jahres höhere CO2-Preis durch. Wegen einer schnelleren Konjunkturerholung, unter anderem in Asien, ist zudem der Bedarf an Rohstoffen schneller gewachsen als das Angebot. Reserven sind angezapft, der Winter steht vor der Tür, die Nachfrage steigt, Energie wird knapp – und damit teurer.

Großhandelspreise steigen so stark wie seit den 70ern nicht mehr

Damit Heizen in den Wintermonaten nicht zum unbezahlbaren Luxus wird, fordert der Städte- und Gemeindebund bereits Heizkostenzuschüsse von staatlicher Seite für Haushalte mit geringem Einkommen. Verschiedene europäische Länder haben auf nationaler Ebene bereits Maßnahmen ergriffen, um die Situation nicht vollends eskalieren zu lassen.

Die gestiegenen Energiekosten sind indes nicht nur für Privathaushalte ein Problem. Auch die Industrie bekommt die Rohstoffknappheit mit voller Wucht zu spüren. Einen Indikator für die weitere Preisentwicklung bilden die Großhandelspreise. Diese verzeichneten im September einen Anstieg um 13,2 Prozent – so hoch lag der Anstieg zuletzt während der Ölkrise in den 1970er Jahren. Auch im Juli und August hatte der Großhandel bereits Preissteigerungen im zweistelligen Prozentbereich verzeichnet.

Rückgänge bei Exporten und Industrieproduktion

Wie sehr die globale wirtschaftliche Großwetterlage die Konjunkturentwicklung auch in Deutschland beeinflusst, zeigt sich besonders deutlich in den Zahlen für August, die vor wenigen Tagen vorgelegt wurden. Entgegen der Erwartungen gingen die Exporte demnach erstmals nach 15 Monaten zurück, und zwar um 1,2 Prozent im Vergleich zum Vormonat. Zugleich stiegen die Importe stärker als gedacht um 3,5 Prozent.

Zugleich ging die Industrieproduktion in Deutschland deutlich zurück, um 4,0 Prozent gegenüber dem Vormonat – und das trotz prallgefüllter Auftragsbücher. Es fehlt schlichtweg an Material und Vorprodukten, weil einerseits die Nachfrage das Angebot übersteigt, andererseits nach wie vor Lieferketten gestört oder unterbrochen sind – eine Folge der Pandemie und den Maßnahmen zu ihrer Eindämmung.

Automobilhersteller unter Druck

Besonders stark trifft das hierzulande die Automobilindustrie, die bekanntlich einen großen Beitrag zum Wirtschaftswachstum wie auch zur Exportbilanz hierzulande leistet. Wegen des anhaltenden Mangels an Halbleitern und Rohstoffen müssen Kunden zum Teil monatelang auf ihre Fahrzeuge warten. Das hat im August dazu geführt, dass auch die Bestellungen deutlich zurückgingen.

Im September schlägt sich das auch in den Zahlen der Neuzulassungen in Deutschland nieder: Mit knapp 197.000 waren es gut 25 Prozent weniger als im gleichen Monat des Vorjahres. Mercedes verzeichnete einen Rückgang um fast 50 Prozent, Volkswagen und BMW kamen mit rund 23 beziehungsweise 19 Prozent etwas glimpflicher davon.

IWF korrigiert Konjunkturprognosen

Vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen an den Märkten hat der Internationale Währungsfonds (IWF) seine Wachstumsprognosen für das laufende Jahr korrigiert. Demnach werde die Weltwirtschaft um lediglich 5,9 Prozent zulegen, zuvor waren die Experten von einem 0,1 Prozent höheren Wachstum ausgegangen. Der Ausblick für 2022 blieb mit 4,9 Prozent unverändert.

Für Deutschland rechnet der IWF in diesem Jahr nur noch mit einem Anstieg der Wirtschaftsleistung um 3,1 Prozent statt 3,6 Prozent, bedingt insbesondere durch die Lieferengpässe, die die deutsche Industrieproduktion wie zuvor beschrieben stark belasten. Im kommenden Jahr soll sich die Lage nach Einschätzung des IWF jedoch aufhellen, das deutsche Wirtschaftswachstum für 2022 wird mit 4,6 Prozent prognostiziert.

Dass sich die Aussichten für die Eurozone trotz der geringeren Erwartungen an die deutsche Wirtschaft insgesamt um 0,4 auf nun 5,0 Prozentpunkte verbessert haben, liegt vor allem an der konjunkturellen Erholung in Frankreich und Italien, die nach Deutschland jeweils die zweit- beziehungsweise drittgrößte Volkswirtschaft der Währungsunion bilden.

Normalisierung der Inflationsrate Mitte 2022?

Mit einer Normalisierung des Inflationsniveaus rechnet der IWF indes erst Mitte des kommenden Jahres – sofern die Rahmenbedingungen sich wie erwartet entwickeln. Darauf aber – das war wohl eine der deutlichsten Erkenntnisse während der Pandemie – kann man sich keineswegs ohne weiteres verlassen.

Dementsprechend lautet der Appell des IWF an die Notenbanker der jeweiligen Zentralbanken: Seid wachsam, seid auf alles gefasst – und seid notfalls bereit und in der Lage, kurzfristig umfassend einzugreifen, falls die Umstände es erneut erforderlich machen.

Dass sich die Inflation im kommenden Jahr beruhigt, davon gehen derzeit zwar die meisten Ökonomen aus. Sicher ist es jedoch keinesfalls. Bei den Lieferengpässen hatte man im Schlussquartal auch mit einer Erholung gerechnet, stattdessen hat sich die Lage weiter verschärft und dürfte länger andauern als ursprünglich gedacht. Auf entsprechende Szenarien sollten sich Lagarde und Co. auch mit Blick auf die Inflationsentwicklung vorbereiten.