Energiekrise: Europas Dilemma

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Seit Putins Truppen Ende Februar in die Ukraine einmarschiert sind, herrscht in Europa das blanke Entsetzen über die Gräueltaten, die aus den umkämpften Gebieten bekannt werden. Doch auch auf anderer Ebene steht die Staatengemeinschaft vor gewaltigen Herausforderungen.

Allmählicher Abschied von russischen Rohstoffen?

Unmittelbar nach Beginn des Krieges haben sowohl die USA wie auch die Europäische Union Sanktionen gegen Russland verhängt. Etliche westliche Unternehmen haben ihr Russlandgeschäft teilweise oder vollständig auf Eis gelegt, ob und wann es wieder aufgenommen wird, ist dieser Tage völlig offen.

Unterdessen geht die militärische Eskalation unvermindert weiter – und in Europa werden Stimmen lauter, die einen Abschied von russischen Rohstoffimporten verlangen. Mit seinen Energiegeschäften finanziere Europa den von Russland ausgehenden Krieg, so die stark verkürzte Argumentation.

Kohle-Importstopp bereits auf den Weg gebracht

Tatsächlich haben sich weite Teile des Kontinents und allen voran die Bundesrepublik in den vergangenen Jahrzehnten stark abhängig gemacht von russischen Kohle-, Öl- und Gasimporten. Ein kurzfristiger Lieferstopp würde die hiesige Wirtschaft weitaus härter treffen als die bisher in Kraft gesetzten Sanktionen.

Dennoch hat die EU-Kommission ein Importverbot für Kohle aus Russland auf den Weg gebracht, auch weitere russische Produkte wie etwa Holz oder Wodka sind von dem Importstopp betroffen. Doch schon jetzt zeichnet sich ab, dass die Diskussionen in Brüssel darüber hinaus weitergehen – und schwieriger werden. Als nächstes stünde aller Logik zufolge russisches Öl auf der Streichliste – und danach kommt dann das Gas. Letzteres gilt als am wenigsten ersetzbar, zu groß ist die Abhängigkeit, zu lange würde es dauern, bis alternative (und wahrscheinlich teurere) Bezugsquellen zur Verfügung stehen.

Es droht Widerstand aus Ungarn

Zwar haben die USA bereits angekündigt, mehr Flüssiggas nach Europa liefern zu wollen. Doch sollte der Transfer aus Russland tatsächlich gekappt werden, wäre das wohl nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Zudem ist nicht klar, ob sich die 27 EU-Staaten überhaupt auf eine einheitliche Linie gegenüber Moskau werden verständigen können. Sanktionen, die die Gaslieferungen betreffen, sind dabei besonders umstritten. Doch auch bei möglichen Einfuhrbeschränkungen für russisches Öl zeichnet sich Widerstand ab, vorgetragen zurzeit vor allem durch Ungarns Ministerpräsidenten Viktor Orban. Er bezeichnete die Ausweitung der Sanktionen auf Öl- und Gasgeschäfte mit Russland als rote Linie und ist, anders als die meisten anderen EU-Staaten, sogar bereit, auf Putins Forderung nach einer Bezahlung in Rubel einzugehen.

Ukraine setzt auf zusätzliche Waffenlieferungen

Streit in Brüssel scheint also vorprogrammiert, während die Zeit aus Sicht der Ukraine drängt. Eindringlich fordert der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj auf internationaler Bühne immer wieder Unterstützung durch zusätzliche Waffenlieferungen. Zumindest damit scheint er inzwischen auf Gehör zu stoßen. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock sprach sich zuletzt, wie auch andere Spitzenpolitiker, dafür aus, die Waffenlieferungen in die Ukraine auszuweiten.

Mit Blick auf den Ölpreis, der seit Kriegsbeginn durch die Decke geschossen war und zeitweise deutlich mehr als 120 Dollar je Barrel erreichte, zeichnet sich unterdessen eine leichte Entspannung ab. Zum Wochenauftakt rutschte der Ölpreis unter die Marke von 100 Dollar pro Fass. Dazu hatten Konjunktursorgen in China – wegen der Null-Covid-Politik – und den USA – wegen der Zinspolitik – beigetragen. Darüber hinaus hat die Internationale Energieagentur (IEA) noch einmal weitere Ölreserven freigegeben, um dem Preisanstieg entgegenzuwirken.

Konjunktur und Inflation bereiten Anlegern, Notenbankern und Politikern Sorge

Der nach wie vor hohe Ölpreis sowie steigende Kosten auch für andere Rohstoffe haben in den vergangenen Monaten die Inflation in Europa und den USA auf den höchsten Stand seit rund 40 Jahren getrieben. Die Teuerungsraten belasten zunehmend die Kaufkraft der Verbraucher, entwickeln sich aber auch für Unternehmen zur erneuten Belastungsprobe.

In den Vereinigten Staaten hat die Notenbank inzwischen die geldpolitischen Zügel angezogen, Anleihekäufe beendet und die Zinswende eingeleitet. Die Europäische Zentralbank hat ähnliche Schritte angekündigt, will sich damit aber wohl noch etwas Zeit lassen. Mit einer Anhebung der Leitzinsen in Europa wird frühestens in der zweiten Jahreshälfte gerechnet.

Kommt es tatsächlich zum Öl- oder gar Gas-Embargo gegen Russland, dürfte das die Karten in Sachen Konjunkturentwicklung und Inflationsdynamik noch einmal komplett neu mischen.