Arbeitsmarktentwicklung: Britische Verhältnisse in 10 Jahren auch bei uns?

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Das gerade begonnene Jahrzehnt wird eine Menge ganz grundsätzlicher Weichenstellungen mit sich bringen. Energiewende, Verkehrswende, Klimaschutz – all das sind bekannte Schlagwörter.

Demografischer Wandel schlägt voll zu

Insbesondere die Bundesrepublik wird sich darüber hinaus aber auch noch einem ganz anderen Problem stellen müssen, das in den vergangenen Monaten im Schatten anderer Krisen in der öffentlichen Wahrnehmung überlagert wurde, in den kommenden Jahren aber immer drängender wird: der demografische Wandel wird voll zuschlagen.

Das Phänomen ist seit Langem bekannt: Auf geburtenstarke Jahrgänge der Nachkriegsgeneration folgte immer weniger Nachwuchs. Die „Boomer“ verabschieden sich nun reihenweise in den Ruhestand – und allzu oft werden ihre Stellen nicht nachbesetzt, weil es nicht nur zu wenig qualifizierte Fachkräfte, sondern schlichtweg zu wenig junge Menschen im Land gibt.

Berechnungen des IW: Deutschland altert überdurchschnittlich stark

Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) hat dazu nun alarmierende Zahlen vorgelegt. Ohne Zuwanderung werde demnach – basierend auf Zahlen von 2019 – die Zahl der 20- bis 64-Jährigen, also der Personen im allgemein erwerbsfähigen Alter, im Jahr 2030 etwa 11 Prozent geringer sein als noch im Jahr 2020. Damit ist Deutschland deutlich stärker betroffen als die Europäische Union insgesamt: EU-weit liegt der Rückgang den Berechnungen zufolge im gleichen Zeitraum bei rund 7 Prozent.

Die Staatengemeinschaft hat also insgesamt ein Überalterungsproblem. Dabei zeigt sich ein Gefälle: In den nordwestlich gelegenen EU-Staaten ist der Effekt, gemessen an den Geburtenraten, stärker ausgeprägt als im Südosten der Union. Von dort allerdings wandern massenweise junge Arbeitskräfte in Richtung Nordwest ab, sodass sich der Effekt auch in diesen Ländern wohl mittelfristig spürbar auswirken wird.

Wirtschaftsforscher fordern offensive Zuwanderungspolitik

Angesichts der überdurchschnittlich alten Bevölkerung in Deutschland plädieren die Forscher des IW für eine offensive Zuwanderungspolitik – ein Appell, der sich auch an die gerade zu bildende neue Bundesregierung richten dürfte. Zwar hat die EU in den vergangenen Jahren immer wieder Initiativen auf den Weg gebracht, um qualifizierten Arbeitskräften die Beschäftigungsaufnahme im Schengen-Raum zu erleichtern. Doch der demografische Wandel ist nicht branchenbezogen, er wird übergreifend zu Problemen führen, mit denen sich Politik und Wirtschaft bald auseinandersetzen sollten.

Wohin eine nationale Abschottung gegenüber ausländischen Arbeitskräften führen kann, lässt sich derzeit wie unter einem Brennglas beobachten beim Blick nach Großbritannien. Dort dämmert den Verantwortlichen allmählich, was der Brexit für das Land im Alltag bedeutet: Die Zuwanderung ausländischer Fachkräfte und Migrationsbewegungen insgesamt zu erschweren, war Kernbestandteil der Austrittsbestrebungen, ein elementarer Baustein des Brexits, auf den seine Befürworter viel Wert gelegt hatten.

Müssen britische Soldaten bald Schweine zerlegen?

Er erweist sich nun aber als Bumerang: Landesweit fehlen Lkw-Fahrer, was zu leeren Supermarktregalen führt. Tankstellen wurden bis zum letzten Tropfen leergepumpt, es bildeten sich lange Schlangen, es kam zu teilweise tumultartigen Szenen bis hin zu Forderungen von medizinischem Personal, bevorzugt tanken zu dürfen, um den Weg zur Arbeitsstätte bestreiten und so die Gesundheitsversorgung aufrechterhalten zu können.

Inzwischen helfen Soldaten aus, das Militär beliefert Tankstellen. Ob demnächst auch Offiziere in Schlachthöfe beordert werden – man darf gespannt sein. Denn seit einigen Tagen sorgt auch ein Metzgermangel für Schlagzeilen: Weil die Tiere mangels Fachpersonal nicht weiterverarbeitet werden können, mussten bereits tausende gesunde Schweine gekeult, also noch auf dem Hof getötet und entsorgt werden, weil die Bauernhöfe ihre längere Unterbringung nicht gewährleisten können.

London wirft mit tausenden Arbeitsvisa um sich

Nach Schätzungen von Branchenverbänden droht künftig bis zu 10.000 Tieren pro Woche ein solches Schicksal, wenn die Regierung das Problem nicht zeitnah in den Griff bekommt. Um kurzfristig gegenzusteuern, plant Premierminister Boris Johnson nun offenbar die Vergabe von 1.000 Arbeitsvisa für Schlachtermeister. Glück hat also, wer über den richtigen Berufsabschluss verfügt und schon immer mal im Vereinigten Königreich arbeiten wollte.

Auch im Speditionsgewerbe läuft eine ähnlich gelagerte Anwerbungskampagne. 5.000 Lkw-Fahrer sollen zügig per Arbeitsvisum auf die Insel geholt werden, allerdings wohl vor allem, um Engpässe im Weihnachtsgeschäft abzumildern: Die Aufenthalts- und Arbeitserlaubnisse sind auf wenige Monate befristet und bieten damit kaum einen Anreiz für die gesuchten Fachkräfte, sich zu bewerben.

Im Wettbewerb mit Europa hat Großbritannien schlechte Karten

Da aber auch in weiten Teilen der EU Lkw-Fahrer fehlen und händeringend gesucht werden, die Einreiseformalitäten für EU-Bürger im Schengen-Raum aber deutlich einfacher gehalten sind, dürfte die Staatengemeinschaft insgesamt bessere Karten haben, Arbeitskräfte anzuwerben – auch, weil längerfristige Perspektiven gewährt werden können.

Ob Großbritannien seinen Fahrermangel tatsächlich wird auffangen können, indem die pandemiebedingt verschobenen Fahrprüfungen nun geballt nachgeholt werden, ist fraglich. Doch selbst wenn es gelingen sollte, die eine Lücke zu stopfen – das Beispiel der Schlachter zeigt, dass sich immer wieder neue Fallstricke auftun werden für den britischen Arbeitsmarkt.

Britische Verhältnisse auf dem Kontinent?

Manch einer zeigt nun hämisch auf London nach dem Motto: Das habt ihr von eurem Brexit. Unbestreitbar hat der EU-Austritt und die daraus folgenden Konsequenzen die ohnehin angespannte Lage zusätzlich verschärft. Doch mit Blick auf die eingangs geschilderten demografischen Entwicklungen in Europa wäre auch die EU gut beraten, sich auf Engpässe einzustellen – oder sie durch frühzeitige Gegenmaßnahmen gleich zu vermeiden.

Ansonsten drohen womöglich in absehbarer Zeit auch hier britische Verhältnisse, und das ganz ohne EU-Austritt.