Armee soll Tankstellen beliefern: Engpässe in Großbritannien spitzen sich zu

Inhaltsverzeichnis

Anfangs sah es danach aus, als würde in Großbritannien nach dem Austritt aus der Europäischen Union und ein knappes Jahr später dem Verlassen des Binnenmarkts alles weitergehen wie gewohnt. Lange Lkw-Staus rund um die britisch-französischen Grenzübergänge galten als vor allem der Pandemie geschuldet, das große Chaos, vor dem viele Vertreter des „Remainer“-Lagers immer wieder gewarnt hatten, blieb aus.

Tausende Trucker fehlen

Mit einigen Monaten zeitlicher Verzögerung zeigt sich nun aber doch mit voller Wucht, welche Folgen der Brexit ganz konkret mit sich bringt für den Alltag der Menschen in Großbritannien. Einzelhändler, Supermarktketten und Speditionen warnen seit Monaten davor, dass ihnen die Arbeitskräfte fehlen, und meinen damit vor allem die Lkw-Fahrer.

Tausende Stellen als Trucker sind vakant, die oftmals osteuropäischen Fahrer wurden während der Pandemie in ihre Heimat zurückgeschickt und dürfen nun wegen strikter Visavorgaben nicht wieder einreisen. Ohne die Arbeitskräfte aus Rumänien, Polen und anderen Ländern aber gerät die britische Wirtschaft zunehmend unter Druck.

Supermarktregale leer – Zapfsäulen auch

Leere Supermarktregale waren hier und da zu besichtigen, sie erinnerten an die Frühphase der Pandemie, als in Deutschland Toilettenpapier, Nudeln und Hefe zwischenzeitlich zum stark vergriffenen Luxusgut wurden. Vor noch dramatischeren Engpässen warnten Einzelhändler nun mit Blick auf die Vorweihnachtszeit, es drohen Hamsterkäufe und umso stärker leergefegte Regale.

Zurzeit aber plagt die Briten noch ein ganz anderes Problem: Der Sprit wird knapp. In den vergangenen Tagen bildeten sich lange Schlangen vor den Tankstellen, der Liter Benzin war so teuer wie seit 8 Jahren nicht mehr – und viele gingen leer aus. Den Tankstellen fehlt schlichtweg der Nachschub, sie verweisen einmal mehr auf die fehlenden Arbeitskräfte.

Kurzfristige Arbeitsvisa sollen Weihnachtsgeschäft retten

Die britische Regierung will davon nichts wissen. Sie schiebt die Engpässe auf private Vorratskäufe, die Premierminister Boris Johnson zuletzt scharf kritisierte. Er forderte die Briten auf, nur so viel zu tanken, wie sie tatsächlich kurzfristig bräuchten. Doch der Appell verhallt, die Panikkäufe weiten sich aus.

Als Notfalllösung hat die Regierung nun angekündigt, kurzfristige Arbeitsvisa auszustellen. Mit der Maßnahme sollen ab Oktober 5.000 Lkw-Fahrer ins Land kommen. Allerdings sollen sie lediglich die akuten Lücken füllen und möglichst das Weihnachtsgeschäft retten, dann aber wieder das Land verlassen: Die Visa sind auf drei Monate begrenzt und damit für Fahrer, die zurzeit in ganz Europa händeringend gesucht werden, nur mäßig attraktiv.

Johnson will Tankstellen von Soldaten beliefern lassen

Insgesamt fehlen allein in Großbritannien Schätzungen zufolge rund 100.000 Lkw-Fahrer. Etwa 25.000 von ihnen seien im Zuge des Brexits auf den Kontinent zurückgekehrt und dürfen wegen der strikten Einreiseregeln, die seither für Großbritannien gelten, nicht wieder einreisen. Zudem waren pandemiebedingt rund 40.000 Fahrprüfungen von interessierten Nachwuchskräften ausgefallen.

Mit Blick auf die Situation an den Tankstellen greift Johnson nun zum äußersten Mittel: Er versetzt die Armee in Bereitschaft, womöglich werden die Tankstellen also bald von Soldaten beliefert. Unterdessen haben immer mehr Briten Schwierigkeiten, ihren Arbeitsplatz zu erreichen. Besonders kritisch ist die Lage deswegen etwa im Gesundheitswesen, aber auch andere, als systemrelevant eingestufte Berufszweige fordern eine bevorzugte Behandlung an den Tankstellen.

Brexit-Folgen: Chaos mit Ansage

Sollten die kurzfristigen Maßnahmen nicht umfassend greifen, droht sich das Chaos bis Weihnachten noch zu verschärfen. Es kommt zeitverzögert, aber mit Ansage. In der Vergangenheit profitierte Großbritannien, wie weite Teile Westeuropas, vom Zuzug von Arbeitskräften aus osteuropäischen EU-Staaten.

Die Abschottungspolitik, die nun zum Personalmangel auf der Insel führt, war jedoch ein wesentlicher Bestandteil des Brexits und ein Kernanliegen seiner Befürworter. Die Konsequenzen dieses Bestrebens werden nun umso drastischer sichtbar.