Notlage in Großbritannien spitzt sich weiter zu

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Nun ist es also soweit: Das Militär ist im eigenen Land unterwegs. Zahlreiche Soldaten müssen in Großbritannien seit dieser Woche einspringen, um Tankstellen mit Sprit zu beliefern – weil dem Land rund 100.000 Kraftfahrer fehlen.

Wie hunderte Deutsche spontan zu Lkw-Fahrern werden könnten

Das führt zu teils kuriosen Ideen. So erhielten beispielsweise in Großbritannien lebende Deutsche zuletzt die Aufforderung, als Lkw-Fahrer ins Speditionsgewerbe „zurückzukehren“ – selbst, wenn sie nie dort tätig gewesen waren. Hintergrund sind die deutschen Führerscheine: Wer in Deutschland seine Fahrerlaubnis erlangt, durfte bis 1999 auch kleinere Lastwagen bis 7,5 Tonnen steuern. Die wenigsten haben das je getan, doch die Erlaubnis allein genügt inzwischen, um in Post-Brexit-Britannien als Berufskraftfahrer angeworben zu werden.

Händeringend sucht das Land nach Arbeitskräften für jene Bereiche, die bislang meist von Arbeitern aus osteuropäischen Ländern erledigt wurden. Weil die häufig bereit waren, niedrigere Löhne und schlechtere Arbeitsbedingungen zu akzeptieren, erledigten sie all jene Jobs, für die sich die Briten selbst zu fein waren – und sind. Kein Investmentbanker will umschulen auf Reinigungskraft, Bauarbeiter, Lkw-Fahrer oder Müllabfuhr.

Panikkäufe und Hamstertanken: Leere Regale und lange Gesichter

Die Auswirkungen, die der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union auf den dortigen Arbeitsmarkt hat, treten immer deutlicher zutage. Anfang 2020 hatte das Königreich den Staatenbund verlassen, seit Beginn dieses Jahres ist nun auch der gemeinsame Binnenmarkt Geschichte.

Nun stehen die Briten immer öfter vor leergefegten Supermarktregalen – oder eben leeren Tankstellen. Premierminister Boris Johnson steht zunehmend unter Druck, versucht die Schuld für die Misere aber auf andere abzuwälzen. So hätten die Medien mit ihrer Berichterstattung zu Panikkäufen und Hamstertanken beigetragen, die Lage sei gar nicht so schlimm, wie überall berichtet würde. Außerdem hätten andere Länder auch mit fehlenden Arbeitskräften im Speditionsgewerbe zu kämpfen.

Kurzfristige Arbeitsvisa sollen Weihnachtsquartal retten

Das stimmt zwar, aber zu derartigen Engpässen wie in Großbritannien hat das bislang auf dem Kontinent nicht geführt. Die tausenden osteuropäischen Arbeitskräfte, die wegen Brexit und Pandemie die Insel verlassen mussten, haben kaum eine Chance auf Rückkehr. Zwar hat die britische Regierung jüngst in Aussicht gestellt, kurzfristige Arbeitsvisa für Kraftfahrer zu erteilen – diese sind aber auf 3 Monate begrenzt, laufen also aus, sobald das Weihnachtsgeschäft überstanden ist.

Das ist zynisch und für die wenigsten rumänischen Lkw-Fahrer ein echter Anreiz, kurzzeitig nach Großbritannien zurückzukehren. Dennoch soll die massenhafte Einwanderung ausländischer Arbeitskräfte ausdrücklich nicht wieder erlaubt werden. Die strikte Begrenzung der Zuwanderung war eines der Kernanliegen der Brexit-Befürworter.

Arbeitsbedingungen in prekären Berufen vor Verbesserungen?

Wegen der Abschottung müssen die Briten aber nun die eigenen Leute ausbilden, auch für weniger beliebte Berufe, und das ist offenbar gar nicht so einfach – zumal pandemiebedingt auch tausende Fahrprüfungen für angehende Lkw-Fahrer ausgesetzt wurden.

Es gibt jedoch auch positive Effekte: Die aktuelle Lage verdeutlicht die hohe systemrelevante Bedeutung all jener Jobs im Niedriglohnsektor, die laut britischer Regierung nun attraktiver werden sollen. Bessere Arbeitsbedingungen, höhere Löhne sowie die Möglichkeit zur Teilzeitarbeit sollen neue Anreize schaffen, um mehr Personal zu gewinnen. Ob dies gelingen und wie lange es dauern wird, bleibt indes abzuwarten.

Unterdessen spitzt sich die Situation an den Zapfsäulen weiter zu. Taxifahrer und Krankenhauspersonal pochen auf bevorzugte Behandlung, weil sie ohne Sprit im Tank nicht arbeiten können oder ihren Arbeitsplatz nicht erreichen. Inwieweit der Einsatz des Militärs die Lage in den kommenden Tagen entspannen kann, wird sich zeigen.

Fischereibranche rechnet mit massiven Verlusten

Wenig entspannt, vielmehr desillusioniert zeigten sich zuletzt britische Fischer. Sie zählten einst zu den stärksten Befürwortern des EU-Austritts, hatte die Regierung ihnen doch versprochen, die Kontrolle über britische Gewässer zurückzuerlangen und bessere Fangquoten auszuhandeln, sodass die Branche bis 2026 über Mehreinnahmen von 148 Millionen Pfund verfügen solle.

Die Realität sieht anders aus: Mittlerweile rechnen Fischereiverbände damit, bis 2026 einen Verlust von 64 Millionen Pfund einzufahren – pro Jahr. Bis zuletzt hatten London und Brüssel erbittert um die Details in Sachen Fischerei gefeilscht. Am Ende stand ein Ergebnis, das für die britische Seite auf dem Papier Vorteile verspricht, die sich in der Praxis aber offenbar nicht bewährt haben. So beziehen sich Fangquotenregelungen mitunter auf Fischarten, die für die Branche uninteressant sind. Zudem gibt es bislang keine Abkommen mit Norwegen, Grönland und den Färöer-Inseln, was die britische Fischereibranche zusätzlich schwächt.

Johnson will Post-Brexit-Abkommen in Teilen nachverhandeln

Die Verbände fordern nun von der Regierung die Neuverhandlung der entsprechenden Teile des Post-Brexit-Abkommens mit der EU. Tatsächlich hat die Johnson-Regierung in den vergangenen Tagen Druck aufgebaut und ist zum verbalen Angriff übergegangen. Ihm geht es allerdings vor allem um das Nordirland-Protokoll.

Dieses sieht vor, dass zwischen der britischen Provinz Nordirland und der Republik Irland, die weiterhin der EU angehört, keine Grenzkontrollen stattfinden sollen. Die Zollkontrollen wurden stattdessen auf den Bereich zwischen Nordirland und dem Rest Großbritanniens verlegt, was in der Praxis jedoch zu Problemen führt. Tatsächlich finden vollumfängliche Zollkontrollen für EU-Waren bei Einfuhr nach Großbritannien bisher kaum statt.

Anfang 2022 sollten sie eigentlich beginnen, nun hat Johnson aber bereits angekündigt, dass sich das Prozedere um einige Monate bis voraussichtlich Juli 2022 verzögern werde. Der EU droht er damit, Artikel 16 zu ziehen und damit die Zollregelungen, die im Nordirland-Protokoll festgehalten wurden, einseitig auszusetzen. Damit will Johnson eine Neuverhandlung des Abkommens erzwingen, was Brüssel bislang kategorisch ablehnt. Die Nordirland-Frage war wegen des fragilen Friedens auf der Insel einer der wesentlichen Knackpunkte in den jahrelangen Verhandlungen gewesen.