Brexit: Steckt in der Krise eine Chance?

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Der März 2019 ist angebrochen und somit der Monat, in dem Großbritannien seine Weichen für die Zukunft stellt. Am 29. März wird das Vereinigte Königreich voraussichtlich die Europäische Union verlassen. Ob dies letztendlich mit oder ohne Deal, also geregelt oder ungeregelt vonstattengehen wird oder sich das tatsächliche Austrittsdatum womöglich noch einmal verschiebt, darüber wird dieser Tage in London heftig debattiert, während man in Brüssel zunehmend kopfschüttelnd über den Ärmelkanal blickt.

Ein Exit vom Brexit, also ein Rückzieher vom Austrittsgesuch, wäre rechtlich möglich, das hat der Europäische Gerichtshof vor einigen Wochen noch einmal klargestellt – zumal auch das ursprüngliche Referendum im Frühsommer 2016 keinen juristisch bindenden Charakter hatte, sondern vielmehr ein Stimmungsbild der britischen Bevölkerung einholte, das von Seiten der verantwortlichen britischen Politiker jedoch als Handlungsauftrag zum EU-Austritt aufgefasst wurde.

Ist der Brexit wirklich die ultimative Katastrophe?

Doch die Zeichen stehen auf Brexit, wann und unter welchen Konditionen auch immer. Dass das Votum für den Austritt seinerzeit gänzlich unerwartet und überraschend zustande kam, hat die Schockwellen verstärkt, die im Anschluss durch ganz Europa schwappten und Politik, Wirtschaft und Märkte gehörig aufgerüttelt haben.

Etliche Schreckensszenarien wurden seither skizziert – aber wäre ein Ausscheiden Großbritanniens aus der Europäischen Union tatsächlich eine Katastrophe? Oder wird hier insgesamt zu sehr schwarzgemalt, liegt nicht womöglich gerade in der Krise eine Chance zur Erneuerung, sowohl für Großbritannien und die Ausrichtung seiner Handels- und Wirtschaftsbeziehungen als auch für die Europäische Union und ihr politisches und wirtschaftliches Selbstverständnis?

EU muss Selbstverständnis neu definieren

Fest steht: Beide Seiten werden sich selbst sowie ihre Beziehungen zueinander neu definieren müssen. Die Europäische Union verliert eine ihrer stärksten Volkswirtschaften und somit einen wichtigen Netto-Einzahler. Die dadurch entstehenden Finanzlücken müssen durch die verbleibenden 27 Mitgliedstaaten aufgefangen werden. Aber nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch war die Präsenz Großbritanniens mit seiner „Special Relationship“ zu den USA innerhalb der Europäischen Union von hoher Relevanz.

Fehlt die britische Stimme, liegt die politische Zukunft Europas umso mehr in den Händen der deutsch-französischen Achse, die bereits in der Vergangenheit die europäische Integration in Schlüsselmomenten der Geschichte vorangetrieben hat. Aktuell jedoch scheinen die Zukunftsvisionen für Europa zwischen Paris und Berlin zu divergieren. Man wird sich neu zusammenfinden müssen, wenn Großbritannien endgültig raus ist. Bis dahin aber überlagert das Thema Brexit das Geschehen innerhalb der EU.

Großbritannien: Wichtiger Handelspartner für Deutschland

Für Deutschland ist Großbritannien ein wichtiger Handelspartner. Im Jahr 2017 nahm das Vereinigte Königreich in der Rangliste der deutschen Außenhandelspartner den fünften Platz ein: 5,25 Prozent der Umsätze im Außenhandel wurden dort erzielt, wobei Deutschland insbesondere vom Handelsdefizit profitiert, das Großbritannien seit Jahren vor sich herschiebt. Der erzielte Überschuss im Handel mit den Briten lag 2017 bei 28,9 Prozent und somit auf Rang zwei, knapp hinter den Vereinigten Staaten von Amerika.

Gerade exportorientierte Unternehmen blicken dementsprechend besorgt auf die Unsicherheiten, die der bevorstehende Brexit mit sich bringt. Noch ist unklar, ob oder wie lange welche Teile Großbritanniens in der Zollunion verbleiben oder nicht, welcherlei bürokratischer Aufwand mit den neuen Zollbestimmungen erforderlich sein wird und ob die Grenzkontrollen nun zwischen Irland und Nordirland oder aber auf der vorgelagerten See fällig werden.

Entflechtung der Handelsbeziehungen

Wenige Wochen vor dem Austrittstermin scheinen mehr Fragen offen als beantwortet. Was sich jedoch bereits abzeichnet, ist die allmähliche Entflechtung der bislang eng verwobenen Handelsbeziehungen zwischen deutschen und britischen Firmen. Da nicht sichergestellt werden kann, dass die Lieferketten weiterhin reibungslos funktionieren, haben etliche Unternehmen damit begonnen, ihre Zulieferer zu wechseln. Britische Firmen greifen eher auf andere inselansässige Anbieter zurück, europäische Unternehmen hingegen ziehen sich mehr und mehr aufs Festland zurück.

Dennoch ist auch klar: Gänzlich abreißen werden die Handelsbeziehungen auch nach dem vollzogenen Brexit nicht. Zu globalisiert ist der Handel, zu stark der Bedarf nach spezifischem Know-how. Wer spezifische Nischenprodukte im Angebot hat, kann im Zweifelsfall profitieren. Für andere Firmen bedeutet der Brexit einen Umbruch.

Großbritanniens schwerer Stand in der Handelswelt

Für Großbritannien wird der Brexit zur Bewährungsprobe. Es werden wohl nicht alle Firmen überleben, gerade kleinere und mittlere Unternehmen, die bislang vom Geschäft mit dem EU-Binnenmarkt profitiert haben, dürften in Bedrängnis geraten. Multinational agierende Großkonzerne hingegen haben wohl hinsichtlich ihres grundlegenden Geschäftsmodells wenig zu befürchten, ihnen droht eher lästiger bürokratischer Zusatzaufwand, der im Zweifelsfall womöglich neue Arbeitsplätze erforderlich macht.

Wie schwer es für das Vereinigte Königreich werden wird, neue günstige Handelsbeziehungen mit anderen Ländern aufzunehmen, hat sich in den vergangenen Monaten eindrücklich abgezeichnet. Spekuliert hatten die Brexiteers, also die Austrittsbefürworter, darauf, bestehende Handelsverträge schlicht per „copy and paste“ 1:1 übertragen zu können. Diesem Wunschdenken haben die meisten Drittstaaten jedoch längst eine Absage erteilt und klargestellt, dass Großbritannien seine wirtschaftliche Bedeutung in der globalisierten Handelswelt nicht überschätzen dürfe.

Belastungen für mehrere Jahre erwartet

Der Europäischen Union wird schon aufgrund ihrer schieren Größe ein anderes Gewicht beigemessen, sie profitiert von günstigen Konditionen mit zahlreichen Handelspartnern in Ost und West. Diese Privilegien wird Großbritannien nicht retten können. Beispielsweise Japan hat Anfang des Jahres deutlich gemacht, dass das Land nicht bereit sei, Großbritannien vergleichbare Positionen anzubieten wie der EU. Stattdessen will man sich Zeit nehmen für ausführliche individuelle Verhandlungen, bei denen für Großbritannien unterm Strich ein schlechterer Deal stehen dürfte als bisher.

Gerade die voraussichtlich langwierigen Verhandlungen und die damit verbundenen zwischenzeitlichen Schwebezustände dürften die britische Wirtschaft in den kommenden Jahren stark belasten. Die Neudefinition der Handelsbeziehungen wird wohl mehrere Jahre in Anspruch nehmen. In dieser Zeit dürfte sich die Unternehmenslandschaft in Großbritannien grundlegend verändern.

Transformation als Chance?

Großbritannien wird eigenständiger werden müssen, stärker auf den eigenen Binnenmarkt setzen und sich selbst versorgen müssen, unabhängiger werden müssen von der Unterstützung von außen. Es wird seine individuellen Stärken herausarbeiten und in den Vordergrund stellen müssen, um etwas in die Waagschale werfen zu können bei den Verhandlungen mit künftigen Handelspartnern.

Gelingt die Transformation, könnte die britische Volkswirtschaft mittelfristig wieder profitieren. Einige Ökonomen rechnen zwar mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts in den kommenden Jahren, allerdings in überschaubarer Größenordnung. Es wird demnach eine Abwärtsbewegung geben, aber keinen Totalabsturz.

Gleiches gilt für die Europäische Union und Deutschland: Einzelne Bereiche, wie beispielsweise die Finanzbranche, könnten hier sogar davon profitieren, dass sich Banken und andere Finanzakteure aus London zurückziehen und beispielsweise nach Frankfurt umsiedeln. Berlin könnte als Start-up-Region an Bedeutung gewinnen, München für Industriefirmen (noch) attraktiver werden. Stellen auch europäische Firmen ihre Zulieferketten um, könnten wiederum deutsche Firmen profitieren – denn die bisherige Konkurrenz aus Großbritannien entfällt oder wird unattraktiver durch die neuen Zollbeschränkungen.

Was Anleger beachten sollten

Wer als Anleger von der komplexen Gemengelage profitieren möchte, sollte sich daher die jeweils branchenspezifischen Verbindungen zu Großbritannien genau anschauen: Wo entstehen Probleme wie etwa Lieferengpässe oder Auftragseinbrüche? Wo entstehen Lücken, die neu geschlossen werden müssen? Wo ergeben sich womöglich gänzlich neue Handlungsfelder, die sich beispielsweise spezifisch mit der Brexit-Bewältigung befassen? Hier empfiehlt sich ein nüchterner und strategischer Blick auf die Sachlage, jenseits aller Hysterie.

Wer den Nervenkitzel schätzt, kann sich zudem auch zurückbesinnen auf den Frühsommer 2016. Im Vorfeld des Brexit-Referendums hatte kaum jemand mit einem Votum für den Austritt gerechnet. Umfragen, Wettbüros, Buchmacher – sie alle gingen davon aus, es werde eine Mehrheit für das „Remain“-Lager geben. Umso heftiger war der Schock am Morgen danach – und umso tiefer der Absturz auch an den Aktienmärkten.

Wer damals vorab gegen die allgemeine Stimmungslage gewettet hat, konnte über Nacht reich werden. Doch auch wer am nächsten Morgen günstig eingekauft hat, wurde in den kommenden Wochen mit Kursanstiegen belohnt, denn das Börsenbeben war insgesamt kurzfristig, an der fundamentalen Bewertung der Unternehmen hatte sich zunächst nichts geändert.

Diverse Optionen denkbar – eine schlechter als die andere

Inzwischen sieht das Ganze etwas komplizierter aus. Es gibt weder einen verlässlichen Stichtag noch ein einfaches Ja-Nein-Votum, sondern ein Nebeneinander verschiedener Optionen, die jede für sich vorrangig negativ bewertet werden: Der Austritt ohne Deal, der harte Brexit, wäre wohl die denkbar schlechteste Variante. Doch auch der zwischen London und Brüssel ausgehandelte Austrittsdeal findet nur wenige wirklich glühende Befürworter. Eine Verschiebung des Austrittsdatums würde die Probleme nur vertagen, aber nicht lösen. Ein Exit vom Brexit würde knapp drei Jahre der Verhandlungen für obsolet erklären und die Position Großbritanniens innerhalb der Europäischen Union wohl deutlich schwächen.

Bliebe noch die Option eines zweiten Referendums. Viele fordern, das Volk erneut zu befragen, nun, da sich etliche Wahlkampfversprechen von einst als haltlose Behauptungen erwiesen haben und das Ergebnis der Austrittsverhandlungen schwarz auf weiß auf dem Tisch liegt. Ein solches Referendum lehnt Premierministerin Theresa May bislang ab. Es ist jedoch gänzlich unklar, wie sie sich, ihre Regierung und ihr ganzes Land anders aus der festgefahrenen Situation hinausmanövrieren will.

Umfragen lassen zudem darauf schließen, dass es keine substanzielle Veränderung der Stimmungslage in Großbritanniens Bevölkerung gibt. Ein klares Votum für oder gegen den Brexit mit einem Verhältnis 60 zu 40 ist nicht zu erwarten, stattdessen könnte sich die Quasi-Pattsituation wiederholen und die Spaltung der Gesellschaft noch weiter vertiefen.

Unternehmen bereiten sich vor – ohne zu wissen, worauf

Wie auch immer sich Großbritannien am Ende entscheiden wird, für die meisten Unternehmen liegt die Herausforderung aktuell darin, sich vorbereiten zu müssen, ohne zu wissen, worauf eigentlich. Viele Firmen haben mittlerweile Pläne für das Worst-Case-Szenario, also den harten Brexit über Nacht Ende März, ausgearbeitet, der lange Zeit als nahezu undenkbar galt. Das Votum für den Austritt galt noch am Vorabend der Abstimmung 2016 jedoch ebenfalls als undenkbar. Somit ist es eine aus dieser Geschichte zu ziehende Lehre, dass grundsätzlich mit allem zu rechnen ist.

So bedeutsam der Brexit auf politischer Ebene jedoch auch ist – für die deutsche Wirtschaftsentwicklung sind es in diesem März 2019 andere Faktoren, die eine weitaus größere Rolle spielen. Der noch immer ungelöste Handelsstreit zwischen China und den USA, der das Wirtschaftswachstum im Reich der Mitte spürbar abgekühlt hat, schlägt unmittelbar auf die Exportnation Deutschland durch. Die drohenden Strafzölle Washingtons auf deutsche Autos bedrohen die daran hängende hiesige Industrie in weitaus größerem Maße als der Brexit.

Anleger sollten daher die Entwicklungen in London zwar im Blick behalten – darüber aber andere bedeutsame Schauplätze nicht aus den Augen verlieren.